Als ich ankam, dachte ich, dass ich genau weiß, was mich erwartet. Schließlich hatte ich sowohl in einer professionellen Rolle als auch als Patientin sehr ähnliche Erfahrungen in Krankenhäusern und Kliniken gesammelt und war schließlich zu der felsenfesten Überzeugung gelangt: Ich weiß genau, wie der Laden funktioniert und dass Kliniken kein Ort sind, wo man sein will. Ich war überzeugt: Niemand KANN mir helfen und niemand WIRD mir helfen WOLLEN.
Doch dank des TCE kann ich es heute kaum fassen, wie ich das alles so stark glauben konnte. Ich finde, im Grunde ist das Konzept eine einzige Utopie. Ich meine: Essgestörte, die alle zusammen mindestens 7 Mahlzeiten täglich einnehmen, ohne professionelle Begleitung. Selbstständig. Jeden Tag. Sieben Mahlzeiten, so ziemlich alle zwei Stunden eine. Und sich gegenseitig offen und freundlich ihr Symptomverhalten rückmelden. Untereinander, unbeaufsichtigt! Eigentlich kann das nicht funktionieren. Denn ganz egal welche Essstörung man hat, eins gehört immer dazu: Ein Spinnennetz aus Lügen, Halbwahrheiten und Heimlichkeiten, in das man sich selbst verworren und verheddert hat und das alle, die einem lieb sind, aussperrt. Aber: es funktioniert. Nach Anfangsschwierigkeiten auch bei mir. Und vielleicht ist diese Unmöglichkeit sogar genau der Grund, warum.
Weil man dadurch realisiert, dass man seine Krankheit hat, aber nicht seine Krankheit ist. Dass man sich gegen sie entscheiden kann und dass alles dadurch viel schöner wird.
Ab dem Punkt, an dem ich mich aktiv dafür entschieden hatte, die Zähne zusammenzubeißen und mich an alle Regeln kompromisslos zu halten, habe ich unglaublich viel mitgenommen, gelernt, erlebt und gefühlt.
Zum Beispiel, dass ich eigentlich ehrlich sein will. Und dass es SO befreiend ist, sich endlich ehrlich zu verhalten. Weil ich mich dann selber irgendwie mehr mag, und andere irgendwie auch. Dass die Leistungsgesellschaft vielleicht sehr schnelllebig und kurzweilig ist, aber dass sie noch hektischer und schneller wirkt, wenn man selbst am Sprinten ist. Das ich mit meinem Lebenslauf niemandem etwas beweisen muss, auch mir nicht, und dass ich meinem Leben ein Stück weit einfach seinen Lauf lassen mag, statt immer schnurgeradeaus zu gehen. Dass es okay ist, Dinge zu wollen. Oder vielleicht sogar zu brauchen. Dass ich nicht alles mit mir machen lassen muss, dass Grenzen die richtigen Leute nicht aussperren. Dass die Welt gar nicht so kantig und schroff ist, wie ich dachte – oder zumindest nicht nur. Dass sie Platz hat für Wünsche, Träume und Hoffnungen. Dass ich keine Angst vor Zielen haben muss und dass ein paar kleine Wunder passieren können, wenn man ihnen den Weg ebnet. Dass von ein paar Kilo mehr oder weniger nicht die Welt untergeht, weil mein Spiegelbild nicht „ich“ ist, sondern nur eine Facette davon – wobei, an dieser Überzeugung arbeite ich noch ein bisschen. Dass eine Essstörung gar nicht so tiefgründig ist, wie sie vorgibt. Sondern, um genau zu sein, eigentlich maximal oberflächlich. Und erst recht keine Lösung für Probleme. Sondern nur ein neues Problem (!), das die Vergangenheit beeinflusst, aber nicht bestimmen muss, wie man ist.
Dass gesund besser ist als krank.
Ich meine, gewusst habe ich manches davon vielleicht auch vorher schon. Aber hier habe ich es endlich gefühlt. Und das ist ein großer Unterschied.
„Suchtkranken kann man nicht vertrauen und Magersucht ist eine Sucht“ – das habe ich oft gehört und mich auch so verhalten. Das TCE dreht den Spieß um. Hier startet man von Anfang an mit einem Vertrauensvorschuss, denn hier gibt es weder Essensbegleitung, noch lückenlose Betreuung.
Außerdem kriegt man Stück für Stück immer mehr Freiheit zurück, mit der man sich Vertrauen zurückerobern kann und darf. Ich wurde erst vertrauenswürdiger, dann merkte ich, wie andere mir vertrauen, dann begann ich Mitpatienten, dann dem Personal mehr zu vertrauen, und nach und nach vertraute ich mir Stück für Stück selbst ein bisschen mehr. Niemand „ist“ seine Diagnose. Wir sind doch alle nur Menschen. Und da gibt es noch sowas, was ich gelernt habe:
Eigentlich sind wir doch alle unabhängig und privilegiert und frei. Und nur viel zu engstirnig und festgefahren, um das zuzulassen und auch so zu leben.
Du, lieber Mensch, der diesen Blog hier liest: Ich kann dir nicht sagen, ob das TCE-Konzept „dein“ Konzept sein wird. Ob du der Offenheit und der gleichzeitigen Strenge gewachsen sein wirst, ob du in die Gruppe passen wirst und welche Steine und Schluchten zu deinem gesunden Weg dazu gehören. Aber ich kann dich nur ermutigen, dir eine Chance zu geben. Auch hier wird dir niemand deinen Kampf abnehmen, deine Probleme für dich lösen. Aber was ich dir versprechen kann: Es gibt hier ganz liebe Menschen und ganz viel echte Hilfe. Eine Schwester hat mal zu mir gesagt: „ein Zuhause auf Zeit.“ Kein klassisches Krankenhausbett. Wenn du dich wirklich kompromisslos entscheidest, gesund zu werden, wirst du es hier. Wenn du dich wiederholt nicht dafür entscheiden kannst, wirst du gehen müssen. Ein bisschen vorgelebte Utopie, vorgelebte Unmöglichkeit wird dir helfen zu erkennen, was zur Wahl steht.
Mach’s gut, nimm dich ernst und mach es dir nicht schwerer als es ist!
Ganz liebe Grüße
Melanie
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Melanie, 21 Jahre, ehemalige Patientin im TCE