Nach oben
Für Dein Leben ohne Essstörung.
?

Online – im Chat mit der Esstörung

Erfahre mehr über die Essstörung
in unserem Blog >

TCE-Blog

22. November 2023 · Erfahrungsbericht

Was uns unsere Patientinnen an Verbesserungsvorschlägen geben

Alle unsere Patientinnen füllen am Ende der Therapie eine Therapiereflexion aus. Darin haben sie die Möglichkeit, unsere Therapie zu bewerten und Lob, Kritik, Wünsche und Anregungen zu äußern.

Über die positiven Aspekte haben wir im letzten Blogbeitrag berichtet. Doch natürlich gibt es bei uns auch Kritik und Verbesserungswünsche. Auf drei Punkte, die immer mal wieder genannt werden, möchten wir in diesem Blogbeitrag ausführlicher eingehen.

Gewicht und Set-Point: Immer wieder kritisieren Patientinnen, dass wir zu viel Wert aufs Gewicht legen. Insbesondere die Tatsache, dass wir den Zugang zur Stabilisierungsphase vom Erreichen eines Gewichts, das einem BMI von 20 entspricht, abhängig machen, wird gelegentlich in Frage gestellt.

Es stimmt, das Gewicht ist bei uns eine wichtige Größe. Wir sind der festen Überzeugung, dass eine Genesung von einer Essstörung nur dann wirklich nachhaltig möglich ist, wenn der Körper wieder die Gewichtsregulation übernehmen darf und nicht mehr der Kopf. Dies setzt aber voraus, dass wir dem Körper die Chance geben, seine Selbstregulationsfähigkeiten wieder zu entfalten. Das geht nur, wenn die Betroffenen sich von ihrem oftmals viel zu niedrig angesetzten Wunschgewicht lösen und das Gewicht akzeptieren lernen, das sich von selbst einstellt, wenn sie regelmäßig, ausgewogen und ausreichend essen. Unserer Erfahrung nach liegt dieses Gewicht bei der großen Mehrheit der Patientinnen jenseits eines BMI von 20. Da wir festgestellt haben, dass es schwierig ist, unter Alltagsbedingungen eine Gewichtssteigerung zu erzielen, haben wir uns entschieden, den Zugang zur Alltagserprobung vom Überschreiten dieser Gewichtsschwelle abhängig zu machen. Wir haben die Frage „BMI 20 – ja oder nein?“ auch schon wiederholt in unserer Patientinnengruppe diskutiert und die überwältigend klare Antwort war immer wieder: „Unbedingt beibehalten!“

Bulimie und Binge Eating wird zu wenig berücksichtigt: Patientinnen, die an Bulimie oder Binge Eating leiden, beklagen bisweilen, dass unser Konzept zu stark auf Anorexie hin ausgerichtet sei.

Tatsächlich leiden etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Patientinnen, die bei uns behandelt werden, an irgendeiner Form der Anorexie. Dies liegt sicher daran, dass diese Erkrankung kaum erfolgreich ambulant behandelt werden kann, während die Bulimie und die Binge-Eating-Störung deutlich bessere Veränderungschancen im ambulanten Setting aufweisen.

Wir setzen dennoch darauf, alle Störungsbilder gemeinsam in einer Gruppe zu behandeln, da alle drei Störungsbilder große Gemeinsamkeiten aufweisen, insbesondere die Überbewertung von Figur und Gewicht und deren Kontrolle, die starke gedankliche Beschäftigung mit Essen sowie die Angst davor, zu dick zu sein oder zu werden. Die Übergänge der Symptome sind oft fließend. Viele Patientinnen, die heute an Essanfällen leiden, berichten von stark restriktiven Phasen in ihrer Krankheitsgeschichte und das Risiko, dass eine Anorexie in die Bulimie kippt (oder auch umgekehrt), ist hoch. Nicht zuletzt können auch Patientinnen, bei denen eine Anorexie diagnostiziert wurde, an Essanfällen und Erbrechen leiden.

Dennoch nehmen wir diese Rückmeldung sehr ernst. Wir haben auch schon einige der Wünsche und Anregungen umgesetzt, z. B. ein eigenes Bewegungsangebot für Patientinnen entwickelt, deren Gewicht bereits bei Aufnahme im oberen Normal- oder Übergewichtsbereich liegt, um deren Ängste und Gefühle von Scham bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper besser berücksichtigen zu können. Wir setzen uns auch in den Gruppen mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den einzelnen Störungsbildern auseinander und fördern den Erfahrungsaustausch in symptomspezifischen Kleingruppen.

Mehr Individualität: Auch dies ist ein Punkt, der gelegentlich auftaucht. Patientinnen merken an, dass ihre individuellen Bedürfnisse und Eigenarten bei uns zu wenig berücksichtigt würden. Dies zielt insbesondere auf unseren umfangreichen Regelkatalog im Hinblick auf Essen und Bewegung ab, bei dem wir nicht zwischen den einzelnen Störungsbildern unterscheiden, aber auch auf Entscheidungen, die vom Team getroffen werden.

Was unseren Regelkatalog angeht, so handelt es sich bei der Therapie im TCE um eine Gruppentherapie. Alle Patientinnen werden gemeinsam in der Gruppe behandelt, sie nehmen die Mahlzeiten gemeinsam ein und gestalten ihre Freizeit gemeinsam in der Gruppe. Diese Art des Zusammenlebens erfordert klare Regeln, auch deshalb, weil die Essstörung dazu tendiert, jede Form der Freiheit und Uneindeutigkeit für ihre Zwecke zu nutzen. Da wir uns aus gutem Grund dazu entschieden haben, Patientinnen mit unterschiedlichen Störungsbildern und unterschiedlicher Symptomatik gemeinsam in einer Gruppe zu behandeln, müssen auch die Regeln, die wir entwickelt haben, allen drei Störungsbildern Rechnung tragen. Deshalb kann es sein, dass nicht jede einzelne Regel für jede unserer Patientinnen relevant ist. Dennoch müssen sich alle an die Vorgaben halten.

Was die Entscheidungen des Teams angeht, so werden diese meist lang und ausführlich im Team diskutiert. In der Regel gibt es zu fast jeder Frage unterschiedliche Standpunkte und Perspektiven im Team. Wir tauschen uns aus, wägen ab, befragen oft auch noch einmal die Patientinnen selbst zu ihrer Sichtweise. Doch am Ende steht eine Entscheidung. Diese orientiert sich an den Bedürfnissen der Patientin, doch ebenso auch an den Bedürfnissen der Gruppe. Wir bemühen uns, diese Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen, doch natürlich können wir nicht garantieren, dass wir immer und in jeder einzelnen Situation die bestmögliche Entscheidung treffen. Auch wir machen Fehler. Und wir sind dankbar, wenn ihr uns darauf hinweist und wir aus unseren Fehlern lernen können.

Davon abgesehen gibt es immer wieder auch Stimmen, die beklagen, dass es am TCE zu viele Freiheiten gäbe oder dass wir viel zu viele Ausnahmen und Sonderregeln für einzelne Patientinnen machen würden. Es scheint, als sei es auch für unsere Patientinnen gar nicht so leicht, sich über das richtige Maß an individueller Freiheit und klaren Regeln und Vorgaben einig zu werden.

 

 

Bildnachweis: TCE/Christin Büttner

Über die Autorin

Dr. Karin Lachenmeir ist Psychologische Psychotherapeutin und seit 2002 im TCE tätig, seit 2008 als Leiterin der Einrichtung. Sie ist approbierte Verhaltenstherapeutin und hat Weiterbildungen in Körpertherapie und Systemischer Beratung absolviert. Seit 2011 ist sie zudem als Dozentin und Supervisorin für verschiedene Münchner Weiterbildungsinstitute tätig. Am TCE hat sie die Verantwortung für alle personellen, organisatorischen und fachlichen Fragen. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten lesend oder schreibend, auf ausgedehnten Spaziergängen, im Kino, im Theater oder auf Reisen.