Wie ihr vielleicht schon gelesen habt, halten unsere Patientinnen jeweils am Ende der Intensiv- und der Stabilisierungsphase eine Abschlussbilanz, in der sie den zurückgelegten Weg würdigen und sich selbst und ihren Mitstreiter:innen für all das danken, was sie schon erreicht haben. Hier folgt die Abschlussbilanz von L., die nach vier Monaten Therapie von der Intensiv- in die Stabilisierungsphase gewechselt ist.
Jetzt sitze ich hier nach ziemlich genau vier Monaten und hätte mir nie erdenken können, nie erträumen können, hier, also wirklich hier so zu sitzen und auch ein bisschen Stolz zu spüren.
Ich erinnere mich noch zu gut an meinen Infoabend hier und weiß noch, dass es mir im Vorhinein ja überhaupt nicht in meinen „Zeitplan", in meinen „Lebensplan" reingepasst hat/hätte.
Was ich bei diesen Gedanken einfach nicht bedacht hatte: Die Essstörung passt mir ja eigentlich auch überhaupt gar nicht in meinen Lebensplan, denn sowas würde sich niemand „reinplanen".
Aber der Infoabend hat mich einfach überzeugt, ich glaube, dank der Patientinnen, die an diesem Abend dabei waren, Frau Liebl und der Atmosphäre hier. Ich kann mir jetzt schon sicher sein, dass es eine richtig gute Entscheidung war.
Die Entscheidung, allgemein etwas gegen meine Essstörung zu unternehmen, war ein „Ja" zu mir.
Zuvor hab ich mir viel zu oft ein Nein gegeben, nein zu Dingen, die mir guttun, nein zu Pausen, nein zum Essen und auf eine Art und Weise nein zum Leben, nein zu MEINEM Leben.
Sie war manchmal so laut, meine Essstörung, dass ich es kaum ausgehalten habe.
Der Weg, erstmal bis hierhin, war nicht leicht, so oft davor schon habe ich es versucht, mich aus meiner Krankheit heraus zu kämpfen, doch damals war ich allein und konnte mir meine Krankheit nie eingestehen.
Dann kam ich hierher, habe so viele Dinge zum ersten Mal überhaupt ausgesprochen und mich trotzdem manchmal noch so falsch gefühlt. Ich habe mich so schwergetan und konnte es mir so schlecht eingestehen und anmerken lassen.
Ich habe mich manchmal so hoffnungslos, so anders, so unverstanden gefühlt und gleichzeitig zehnmal mehr verstanden als davor irgendwo. Ich hab mich so sehr für meine Essstörung geschämt.
Ich weiß noch ganz genau, wie ich wegen Corona in der Quarantäne und somit ab der dritten Therapiewoche mehr oder weniger für zweieinhalb Wochen daheim war. Es war einfach... nicht cool .... alles... nicht einfach.
Ich hatte so eine Riesenangst, dass die Essstörung nie leise wird, ich nie mehr Freiheit spüren kann, nie wieder Gelassenheit und nie wieder Selbstzufriedenheit oder eines dieser wunderschönen Gefühle.
Es wurde manchmal ein bisschen besser.
Dann war ich über Ostern heim und es war einfach anstrengend. Es hat zwar soweit alles geklappt, aber ich war danach eher resigniert, weil ich mir dachte, ich könnte das nie so lange durchhalten, wenn es für immer so bleiben würde, so anstrengend. Ich konnte der Situation wenig Positives abgewinnen. Ich hatte Angst, ich wäre zu schwach. Weil ich mich einfach schon viel zu oft so schwach und alleine gefühlt habe.
Ich möchte mich einfach nicht mehr selbst kaputt machen, nicht diesen Selbsthass spüren, ich möchte nie wieder zurück.
So lange war ich resigniert, weil ich mir dachte, ich hätte keine Fortschritte gemacht, aber jetzt weiß ich auch, dass dies nicht stimmt. Da wollte mir die Essstörung schon wieder etwas einflüstern. Und vielleicht geht es genau darum: um kleine Schritte, und darum, diese dafür aber dann kontinuierlich zu machen, denn wenn bei einer Leiter die Sprossen zu weit auseinander sind, kommt man auch nicht hoch, man kommt null voran.
Natürlich blicke ich auch mit Angst... nein, eigentlich mit Respekt auf die Stabi (= Stabilisierungsphase, Anm. d. TCE), es werden einige Herausforderungen kommen und diesen werde ich mich stellen (ob ich will oder nicht).
Ein Ziel ist es, mit mir wegen der Fehler, die ich noch machen werde, nicht so hart umzugehen, sondern nachsichtig mit mir zu sein und mir auch zu erlauben, von „meinem Weg" mal abzukommen oder einfach mal rechts oder links daneben her zu schlendern. Mich mehr und mehr auszuprobieren, mir das Leben zurückzuholen, Fehler zu machen und draus zu lernen.
Ich habe noch große Baustellen, vieles, was ich noch lernen muss bzw. darf und ich werde mich an diese Schwierigkeiten herantasten. Es wird nicht leicht und auch nicht angenehm, aber ich möchte wieder damit umgehen können, ohne daran kaputtzugehen.
Ich möchte damit weiter machen, öfters mal liebevoll „Ja" zu mir zu sagen.
Also ja, ich will wieder fliegen!
Ja, ich will einfach wieder fliegen, wie in dem Lied ("Fliagn" von "Solarkreis", das L. am Ende ihrer Abschlussbilanz vorgespielt hat; Anm. d. TCE).
Und Euch allen Danke sagen, jedem Einzelnen vom Team, und jeder Mitpatientin, Mitbewohnerin, jeder Seelenverwandten!
Danke, dass Ihr hier seid und Teil meines Lebens, Teil meiner Genesung seid und mich noch weiter begleitet!
L., 21 Jahre, am Ende der Intensivphase