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TCE-Blog

09. Februar 2022 · Erfahrungsbericht

Mittwoch

Mittwochs gibt es überdurchschnittlich oft TCE-Müsli. Das bedeutet: Große Augen bei den Mitarbeiter:innen, Schlangestehen nach dem Morgenteam in der Küche und dann das zweite Frühstück genießen. Ich kenne keinen, der kein Fan des TCE-Müslis ist. Es ist immer ein bisschen eine Überraschungstüte, welche Inhaltsstoffe es diesmal reingeschafft haben, aber es schmeckt jedes Mal phänomenal gut. Zum Glück habe ich sehr sorgsame Kollegen, die sich immer um eine Portion für mich kümmern und mir liebevoll angerichtet ins Büro stellen. Ich habe nämlich mittwochs erstmal gar keine Zeit für die Müslis dieser Welt. Ich bin in der Offenen Gruppe.

Jeden Vormittag steht eine andere knapp zweistündige Gruppe auf dem Programm. Am Mittwoch lade ich zusammen mit unserer Teamleitung zur offenen Gesprächsgruppe. Das heißt: Alle Themen, die Einzelne oder die Gruppe umtreiben, sind herzlich willkommen. Die Gruppe ist bunt und spontan und jedes Mal ein bisschen anders – und genau deshalb mag ich sie so gerne.

Wir starten zunächst immer mit einem Lied, das eine Patientin/ein Patient mitbringt und der Gruppe vorstellt. Wer mich ein bisschen kennt, weiß: Musik hat einen überaus großen Stellenwert in meinem Leben und ist ein sicherer Garant dafür, mich zu berühren. Und so ist es natürlich auch jedes Mal und ganz besonders, wenn die Patient:innen einen Teil von sich über die Musik zeigen und zum Ausdruck bringen. Mal sind es Gänsehaut-Balladen, dann Motivationssongs, dann Erinnerungsstücke an richtig gute oder auch richtig schwere, aber womöglich schon überstandene Zeiten. Ich finde es jedenfalls jedes Mal schön, eine musikalische Tür ins Innere der Patient:innen geöffnet zu kriegen.

Im Anschluss steigen wir dann ein ins Thema. Oft dreht es sich um Schwierigkeiten mit dem Körper, um Vergleichen mit anderen und Abgrenzung, um Selbstwertprobleme oder um die vielen anderen Ängste und Sorgen, die die Patient:innen umtreiben. Manchmal wissen wir vorab schon, worum es gehen soll, manchmal werden wir überrascht. Im Endeffekt ist es aber ohnehin so: Wir schauen, was in der Gruppe entsteht, und gehen mit dem mit, was in dem Moment da ist. Die beste Vorbereitung taugt ja nichts, wenn sie letztlich übersieht, was dann wirklich in der Stunde selbst relevant ist. Und so entsteht schließlich immer genau das, was die Patient:innen zusammen mit uns kreieren: Mal wird viel geredet, mal viel gespürt, mal werden Flipcharts vollgemalt und mal Dinge im Raum dargestellt. Mal gibt es viele Worte, dann wieder wenige. Mal wird geweint, mal wird gelacht. Und manchmal taucht auch alles Mögliche abwechselnd oder zusammen auf.

Ich bin jedenfalls immer wieder begeistert von der Offenheit unserer Patient:innen. Manche bringen schlechte Erfahrungen mit anderen Menschen mit, andere sind sozial sehr unsicher. Aber auch ganz unabhängig davon: Es gehört jede Menge Mut und Vertrauensvorschuss dazu, sich in der Gruppe mit der eigenen Verletzlichkeit zu zeigen, die Anderen ins Innere blicken zu lassen und wirklich ehrlich mit den eigenen Schwächen und Bedürfnissen, aber auch Stärken und Kompetenzen ins Scheinwerferlicht zu treten. Und gleichzeitig ist es in meinen Augen das Heilsamste überhaupt: sichtbar werden, in den Austausch kommen, in den anderen Patient:innen Verbündete finden und zusammen mit gebündelter Stärke neue Wege beschreiten.

Oft kann ich als Therapeut nur staunen, was die Patient:innen allein alles auf die Beine stellen. Für mich ist es ja sowieso so: Die Patient:innen sind die wahren Expert:innen und der wertvollste Rat der Weisen, den man hier in der Therapie nutzen kann. In meiner Anfangszeit am TCE war ich völlig baff, wie reflektiert und empathisch die Patient:innen miteinander umgehen, wie gut sie eigenes Empfinden und das, was ihnen anderen gegenüber wichtig ist, in Worte fassen können. Ich weiß immer noch nicht, woher diese Kompetenz kommt. Ich weiß nur, dass ich heute noch darüber staune.

Das heißt natürlich alles nicht, dass es nicht auch mal Konflikte und Chaos gibt, dass die Gruppentherapie mal stockt und irgendwo eine Blockade drin ist. Aber letztlich ist ja genau das einfach wieder ein neues Gruppenthema, das Platz in der Offenen Gruppe finden kann. Und dabei muss man unseren Patient:innen auch wirklich hoch anrechnen: Sie sind immer mit an Bord, lassen sich auch auf vielleicht zunächst ungewohnte Ansätze und Übungen ein, probieren aus und wirken an Veränderungsprozessen mit. Und am Ende ist es so: Gruppentherapie ist wie Segeln. Man schippert los und hat eine Idee, wo es hingehen könnte. Doch manchmal hat der Wind andere Ideen, fährt Umwege oder letztlich ein ganz anderes Ziel an. Das Wichtigste ist das gemeinsame Segeln, sich kennenzulernen, aufeinander vertrauen zu dürfen, Hand in Hand zu arbeiten und neue Erfahrungen zu sammeln – und schließlich mit einem bunt gefüllten Werkzeugkoffer, Anekdoten und eingebettet in ein tragendes Beziehungsgerüst auf neuem Land anzukommen, sich ein lauschiges Plätzchen zu suchen oder bei Bedarf noch ein bisschen weiter zu paddeln, bis ein tragender, guter Untergrund gefunden ist, um dort endlich mal wieder verweilen und einfach nur sein zu dürfen.

Bildnachweis: Adobe Stock

Über den Autor der TCE-Männer-Kolumne

Jan Winzinger ist Psychologe (M.Sc.), Systemischer Therapeut und Familientherapeut und seit Anfang 2019 im TCE.