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TCE-Blog

08. März 2017 · Erfahrungsbericht

Ein Tag in der Krankheit - gestern und heute

Zu Beginn der Therapie am TCE - Therapie-Centrum für Essstörungen beschreiben alle Patienten - ganz gleich, ob sie von einer Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating-Störung betroffen sind - einen „Tag in der Krankheit". Sie beschreiben, was sie an einem typischen Tag mit ihrer Essstörung denken, fühlen und tun, um sich noch einmal zu vergegenwärtigen, wie stark die Krankheit ihr Leben beeinträchtigt – und um das Schweigen zu brechen, das oftmals wie eine schwere Last auf ihnen liegt. Nachfolgend findet Ihr Auszüge aus solch einem „Tag in der Krankheit" und ebenso die Gedanken, die sich die Autorin im Rückblick dazu gemacht hat.

Die Essstörung ist die schönste und stärkste Befriedigung in meinem Leben. Das klingt traurig, aber das Wissen, „Ich kann wirklich alles essen, was ich will! Alles! Es kommt eh alles wieder aus mir raus!", ist der wichtigste Gedanke, der mir noch einen Sinn gibt. Die Krankheit raubt mir jede Nacht meinen Schlaf. Sie schleicht sich durch meine Träume - so präsent und realistisch. Dann wache ich nassgeschwitzt, sabbernd vom Rauschzustand früh morgens auf. Klammernd halte ich mich am Bettgestell fest, um mich der immer stärker werdenden Unruhe in mir entgegenzustemmen. Mein Herz rennt mir davon, vermutlich schon mit großen, zu schnellen Sprüngen in Richtung Küche. Mein Kopf schmerzt, mein Rachen tut höllisch weh. Zwölfmal habe ich mich gestern wieder übergeben. Die Uhr zeigt 4 Uhr morgens an. Die gesamte Familie schläft noch ruhig und keiner sollte mitbekommen, dass ich schon wieder so früh im Haus herumgeistere. [...]
Die Essstörung hat mich im Griff und lässt mich Dinge tun, die mein wahres Ich niemals wollen würde. Es ist im Moment eigentlich völlig egal, wie der Kühlschrank gefüllt ist, ob es mir schmeckt oder ob die Lebensmittel überhaupt noch essbar sind. Hauptsache es ist viel drin! Hauptsache diese Sinnlosigkeit, diese Leere, die ich spüre, wird für diesen Moment gefüllt. Ich öffne den Kühlschrank. Na ja... Voll sieht anders aus. Ich merke, wie wütend es mich macht, aber bevor ich tiefer auf dieses Gefühl eingehen kann, steckt schon das erste Stück Brot in meinem Mund. Ich esse und esse. Diese Freude erfüllt mich. Ich stopfe, kriege kaum Luft. Das schlechte Gewissen versucht mir einzureden, dass ich doch aufhören sollte. Es macht mich doch nicht wirklich glücklich! Aber das ist Schwachsinn, denke ich mir. Beim Essen bin ich wunschlos! Ich vergesse für diesen Moment alle Sorgen, alle Ängste... Einfach nur voll werden und mich spüren. Drei Tiefkühlpizzen liegen noch im Ofen. Doch ehe ich mir noch etwas in den Mund schieben kann, tut sich oben etwas. Oh nein! Papa ist vermutlich wach, um mich zu kontrollieren.

Ich schnappe mir meinen Rucksack, haue die noch fast eisigen Pizzen, ein paar Semmeln und Süßigkeiten hinein und renne Richtung Auto. Es ist komplett verschmutzt, überall Brösel und Fettreste. Ich fahre drauflos, stopfe mir die Pizzen und das ganze andere Zeug in den Mund. WOOOOAW, das war knapp, ich sollte eigentlich auf den Verkehr achten, aber mit einer Hand ist das etwas schwieriger. Irgendwann bin ich einigermaßen gefüllt - was mir nicht reicht! Zum Glück ist Lidl nicht weit weg. Wieder Geld ausgeben. Meine Ausbildungsvergütung ist mickrig, aber es muss sein. Verkaufe ich halt wieder ein paar Dinge auf Ebay. Was nehme ich nun? Vermutlich das Gleiche wie bei allen zehn Essanfällen am Tag. Ein paar Packungen Kekse und Schoko, ein bis zwei Gläser Nutella, vier Packungen Emmentaler Käse, zehn Brezen mit Frischkäse, ein bis zwei Fertiggerichtdosen – den Löffel habe ich ja immer im Auto dabei. Betüddelt, wie in einem Rauschzustand durch die Geschmäcker der Einkäufe, erreiche ich meine Arbeitsstelle. Ich öffne den Knopf meiner Hose. Mein Bauch drückt. Ich kann kaum noch laufen. [...]

Normalerweise würde ich mich schon lange leerkotzen, aber die Zeit erlaubt es mir gerade nicht. Ich muss diesen Tag überstehen, doch soweit kommt es diesmal nicht. Da liegt es nun, mein Erbrochenes, direkt vor der Cafeteria. Mir war schlecht hoch 1000 und der Ekel in mir stieg immer weiter. Das Essen kam von alleine wieder hoch. [...] Wie kann ich den ganzen Tag mit Dingen vergeuden, die mich eigentlich ekeln sollten? Ständig dieser Geruch von Erbrochenem um die Nase, die Zähne werden schlecht und man verliert den Bezug zum Leben. Jeder wendet sich von mir ab... Doch trotzdem ... Diese Angst vor dieser fehlenden Fülle, dieser leere Platz, der mein Leben gerade ausmacht, ist so enorm groß. Wie fühlt es sich eigentlich an, zu leben? Wie schaffe ich es, ein paar weitere Schritte aus dem Ganzen zu wagen? Niemand kennt mich mehr. Reden... auf andere zugehen... diese Nähe, Unternehmungen, Spontanität... alles so weit weg... Ich bin allein... Denn niemand weiß, wie es mir wirklich innerlich geht... Für andere scheint alles perfekt... Das ist es aber nicht.

Was ich über meinen Tag in der Krankheit denke?
Hm, ganz einfach. Er ist krank! Ich war und bin es ja schließlich auch. Deshalb bin ich auch hier. Endlich muss ich da nicht mehr alleine durch. Die Entscheidung, ein zweites Mal den Schritt ins TCE zu gehen und somit die ersten Schritte aus der Krankheit zu wagen, war wahnsinnig schwer, aber ich bereue es in keiner Weise. Natürlich geht es mir jetzt, nach meiner zehnten Therapiewoche hier noch nicht wirklich gut und zu sagen, ich wäre schon irgendwie geheilt oder gesund, wäre Irrsinn! Dennoch merke ich in vielen Situationen, dass ich mich definitiv verändert habe. Die letzten neun Jahre war ich eher nur „die Essstörung in Person" und nicht „ICH", wie ich mich kenne und eigentlich auch sehr gerne mag. Von Tag zu Tag merke ich aber, dass ich es stets schaffe, ein Stück meiner Essstörung abzulegen, um Platz zu schaffen für etwas, das mich damals ausgemacht hat. Die Lebensfreude wächst und ich sehne mich nach Dingen, die ich durch meine Krankheit niemals machen konnte und irgendwie auch nicht mehr wollte. Ich spüre die Lust auf Meer. Ich will Reisen, Lachen, Sport machen, meinen Freund sehen, und, und, und...

Ich habe noch einen langen Weg vor mir. DER WEG ist vermutlich auch nicht zu Ende. Ich bin mir aber sicher, dass dieser Weg mein Leben ist und dass die Krankheit ein riesengroßer Stolperstein war, der mich neun Jahre lang davon abgehalten hat, den richtigen Weg zu finden, um weitergehen zu können. Ich bin dankbar für jeden Tag, jede Woche ohne Rückfall. Ich bin stolz! Und dieses Gefühl ist unbeschreiblich schön.

 

Bildnachweis: ClipDealer

Über die Autorin

Isabell, 24 Jahre, Patientin im TCE